Poetische Experimente mit GPT-3
“Die Möglichkeit, daß Computer Gedichte verfassen” gehört für den Lyriker Rolf Schilling zu den “Gedanken, die einen jungen Dichter entmutigen können” (Schilling 1990, 104–105). An dem Tag, da die amerikanische Machine-Learning-Firma OpenAI ihr großes Sprachmodell GPT-3 veröffentlicht hat, ist diese Möglichkeit vielleicht Wirklichkeit geworden.
Versuche, automatisch und augenblicklich ein Gedicht zu erstellen, gab es einige – und das bereits seit einiger Zeit: Noch lange vor der Verfügbarkeit von personal computers hat der Mathematiker Theo Lutz “Stochastische Texte” (1959) generieren lassen. Schon zehn Jahre zuvor hatte sich der Pionier Alan Turing Gedanken über die Möglichkeit eines “sonnet written by a machine” gemacht.
Derart kombinatorische Gedichte sind zu einer ähnlichen Zeit auch von eigentlichen Lyrikern erstellt worden. Cent Mille Milliards de Poèmes (1961) ergeben sich aus Raymond Queneaus Klappbuch mit zehn identisch gereimten Sonetten à 14 Verse, die sich durch versweises Umklappen zu 10¹⁴ reimlich gleich gebauten Sonetten rekombinieren lassen. Digital ist etwas Ähnliches selbstverständlich auch ohne Weiteres machbar.
Da sich klare formale Vorschriften direkt in kombinatorische Regeln übersetzen lassen, liegt ein Beginn mit einfachen syntaktischen Strukturen (bei Lutz) und mit dem streng durchgeführten Sonett (bei Queneau) nahe. Erst in der weiteren Entwicklung wurden auch metrisch, syntaktisch und typographisch experimentellere Zugänge zur Lyrik automatisiert – beispielsweise mit dem “automatengedichtautomat”, von Hannes Bajohr, den er an seinem Gedichtband Halbzeug (2018) mitschreiben ließ. Ich habe vor einigen Jahren mit dem modernizr ein ähnliches Werkzeug gebaut.
Doch soviel zu den algorithmisch angelegten Mustern. Wer diese Projekte unternommen hat, wusste im Voraus, ungefähr wie die automatisch erzeugten Gedichte aussehen sollten. Für lange Zeit war das auch die einzig umsetzbare Form der Computer-Automatisierung.
Maschinelles Lernen verfolgt einen grundlegend anderen Ansatz. Einfach gesagt wird dabei ein Computer mit einer ausreichend großen Menge an strukturierten Daten konfrontiert, sodass sich die darin enthaltenen Muster im neuronalen Netz von selbst niederschlagen und ohne explizite Programmierung erkannt oder sogar repliziert werden können.
OpenAI hat seinem Modell zu diesem Zweck weite Teile des Internets in mehreren Sprachen vorgesetzt. Dabei heraus kam GPT-3, eine Gruppe verschieden konfigurierter Modelle, die ihnen gegebene Texte nach ihren Vorstellungen weiterspinnen. Da in den Trainingsdaten auch eine große Menge deutscher Texte enthalten ist, sollte der Umgang mit der deutschen Sprache einigermaßen möglich sein. Eine größere Menge an Trainingsdaten deutet meist auf bessere Ergebnisse hin. Englisch sollte GPT-3 flüssiger von der Hand gehen als deutsch, Prosa stilsicherer als Poesie.
Beginnen wir also – zur Aufwärmung – mit einem literarischen Prosatext.
Surrealismus: H. C. Artmann
Der Wiener Lyriker H. C. Artmann (1921–2000) hat mich mit seinen surrealistischen Texten immer wieder unterhalten und beeindruckt. Surrealismus und kombinatorischer Zufall laufen oft auf ähnliches hinaus. Daher füttere ich das Sprachmodell als erstes mit dem Anfangsstück von Artmanns Grünverschlossener Botschaft (1972, 1):
Im herzen einer grille das cello zu streichen, ist ein häufiger traum und anlaß zur hoffnung, geld zu erwerben, gesetzt daß die grille von einer wachtel verspeist wird, die wachtel aber von einem lamm, das lamm von einem wolf, und dieser wieder von einem hungernden admiral, den seine meuternde flotte an der küstenebene von Oregon ausgesetzt hat. Dann tönt das cello in den eingeweiden admiral Boyds, du erwachst und schreibst, deine eigene musik noch im ohr, die zahl eins.
So weit, so wild. Schauen wir, was der – nicht allzu grünverschlossene – Bot schafft…
Im Herzen einer Grille das Cello zu streichen, ist ein häufiger Traum und Anlaß zur Hoffnung, daß die Erde nicht nur ein Planet, sondern ein riesiger Grill ist, der unter der Herrschaft eines Königs steht, der uns sein Fleisch verkaufen will. In einer Umfrage gaben jedoch nur 10% der Grillen an, dass sie ihr Herz an das Cello verloren hätten. Die anderen 90% sagten, sie würden das Cello nicht einmal berühren, wenn sie die Wahl hätten.
Surreal, bildstark – und absolut durcheinander. Das Modell scheint den Unterschied zwischen Grill und Grille nicht gründlich genug gelernt zu haben. Die Bildwelten von Barbecue – Grillrost und Fleisch und (Burger-?)König – und das Cellospiel betreffende Meinungsforschung unter Grillen werden auf verwirrende Weise miteinander enggeführt. Mit dem Bild des Planeten Erde als Grill ist dieser Text womöglich bereits climate writing, der fleischverkaufende König mit Sicherheit ein durchdachtes kapitalismuskritisches Motiv. Trotz alledem würde dieser Text wohl noch keine Preise gewinnen. Auf ein Neues.
Im Herzen einer Grille das Cello zu streichen, ist ein häufiger Traum und Anlaß zur Hoffnung, und er hat sich in letzter Zeit mehrfach erfüllt. Zu den eindrucksvollsten Erlebnissen gehörte die Aufführung von Bachs Suita in d-Moll durch den Cellisten Alban Gerhardt, der sich während der ganzen Zeit an der Grille festklammerte.
Bei aller Kreativität bleibt das Modell den Gegebenheiten treu: Es existieren sowohl Bachs Suite in d-Moll als auch der Cellist Alban Gerhardt. Dennoch stellen sich – wie auch schon bei Artmanns Ausgangstext – einige Fragen hermeneutischer Natur: Wo befindet man sich, wenn man das Cello im Herzen einer Grille streicht? Ist man selbst in diesem Herz? Oder befindet sich bloß das Cello in der Grille und man streicht von außen? Welche Dimensionen herrschen hier vor? Ist die betreffende Grille einfach sehr groß oder ist bloß das Cello sehr kompakt? Wenn letzteres der Fall ist, ist dann auch der Cellist entsprechend klein – oder bloß sein Bogen, oder doch sein ganzer Arm samt Bogen?
Keine dieser Fragen beantwortet oder erklärt GPT-3 in seiner Fortschöpfung. Durch das Festklammern entstehen sogar einige neue Probleme. Der Text wird noch weniger vorstellbar. Ob das im Sinne des Surrealismus geschieht, kann ich allerdings nicht sagen. Also – weiter geht’s.
Im Herzen einer Grille das Cello zu streichen, ist ein häufiger Traum und Anlaß zur Hoffnung, aber auch eine Aufgabe die mit viel Geduld und Geschick verfolgt werden muß. Bekanntlich ist eine Grille ein Insekt und wie sollte man auch ein Instrument in ihrem Herzen spielen? Nun, es geht; ich habe es getan.
Vor einigen Jahren fand ich eine verirrte Grille in meinem Haus. Es war ein sehr kleines Tier und ich nahm es mit nach draußen, um es frei zu lassen. Als ich es auf die Hand nahm, erschrak ich, denn das Tierchen war kalt und reglos. Ich dachte, es sei tot, aber dann bemerkte ich, daß es atmete. Es war offensichtlich krank oder verletzt und ich beschloß, es zu pflegen. Ich suchte ein Glas und legte die Grille hinein. Dann ging ich in die Küche und suchte nach etwas Essbarem für das Tier. Ich fand ein paar Krümel Brot und gab sie in das Glas. Die Grille atmete noch, aber sie bewegte sich nicht. Ich stellte das Glas auf einen Tisch in meinem Zimmer und beobachtete das Tier. Nach einer Weile bewegte es sich und nahm das Brot. Es aß ein paar Krümel und schien sich zu erholen. Dann kroch es aus dem Glas und ich sah zu, wie es auf einem Tisch herumlief. Es war offensichtlich, daß das Tier krank war und ich beschloß, einen Tierarzt aufzusuchen. Der Arzt untersuchte die Grille und stellte fest, daß sie an einer Krankheit litt, die Grille-Pest genannt wird. Er gab mir ein paar Medikamente und sagte, ich solle das Tier pflegen und beobachten.
Die Medikamente schienen zu helfen und die Grille wurde bald wieder gesund. Nach einigen Tagen bemerkte ich, daß sie ein seltsames Geräusch von sich gab. Es hörte sich an, als würde sie singen. Ich beobachtete sie genauer und stellte fest, daß sie tatsächlich ein Lied sang. Ich konnte es nicht glauben und hörte zu, wie die kleine Grille sang. Es war ein wunderschönes Lied und ich war fasziniert. Ich wußte, daß Insekten nicht singen können, aber diese Grille tat es. Ich beschloß, ein Instrument für das Tier zu finden, damit es sein Lied spielen konnte. Ich ging in ein Musikgeschäft und kaufte ein Cello. Dann nahm ich das Glas mit der Grille und stellte es neben das Cello. Ich spielte einige Akkorde und die Grille begann sofort zu singen. Es war ein wunderschöner Klang und ich lauschte fasziniert. Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß die Grille müde wurde und ich hörte auf zu spielen. Das Tier schien eingeschlafen zu sein. Ich beobachtete die Grille eine Weile und stellte fest, daß sie nicht mehr atmete. Ich nahm sie aus dem Glas und legte sie auf das Cello. Dann spielte ich ein letztes Lied für das kleine Tier. Es war ein trauriges Lied, aber ich spielte es mit ganzer Seele. Als ich fertig war, legte ich das Instrument weg und ging nach draußen. Die Grille war tot, aber ich hatte ihr geholfen, ihr Lied zu singen.
Die Einleitung verheißt Spannung und erinnert an den Jules-Verne’schen Pioniergeist des späten 19. Jahrhunderts: “Nun, es geht; ich habe es getan.” Was folgt, hat Hand und Fuß – und Fühler: Eine kinder- und bilderbuchreife Geschichte samt Spannungsbogen entfaltet sich. Dementsprechend ist sie stilistisch einfach gehalten, ohne eintönig oder primitiv zu werden. Bei anderen Vervollständigungen von GPT-3 war das schon auf viel kürzerem Raum zum Problem geworden. Zugegeben, in diesem Text gehen neue und alte Rechtschreibung willkürlich durcheinander, die Schreibungen “beschloß” und “daß” stehen neben der von “Essbarem”.
Hinter der vordergründigen Phantastik des Inhalts imaginiert der Text eine Welt, in der Grillen für die Veterinärmedizin eine ebenso große Rolle spielen wie Hunde und Hauskatzen: Grillenkrankheiten sind gut diagnostizier- und behandelbar. Und der Tierarzt hat selbstverständlich allerlei Grillenmedikation auf Vorrat. Dennoch – und das macht die Tragik der Geschichte aus – schlagen die Medikamente nicht an, die “Grille-Pest” obsiegt, und das mit dem Cello begleitete Lied der Grille wird ihr Schwanengesang.
Elegik: Rainer Maria Rilke
Tod und Gesang finden sich auch im Genre der Elegie zusammen. In der Antike hat man dieses Wort auf ἒ ἒ λέγειν, also ‘weh, weh sagen’ zurückgeführt: Elegien sind Klagelieder, versgewordene Verluste. Zu den bekanntesten modernen Elegie-Texten zählen die zehn Duineser Elegien des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926), die vor etwas mehr als einem Jahrhundert entstanden. Im Gegensatz zu den surrealistischen Gebilden Artmanns unterscheiden sie sich bereits oberflächlich stark von Prosa: Zeilenumbrüche fahren mitten durch Sätze. Die Sätze selbst sind weniger glatt zusammengefügt. Gelegentlich nähert sich der Rhythmus dem Versmaß des antiken elegischen Distichons an. Es wird spannend zu sehen, welche dieser Charakteristika das Sprachmodell übernehmen, welche es übersehen wird. Ich gebe GPT-3 den Anfang der ersten Elegie zur Vervollständigung:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang
Also, was sagt GPT-3 dazu?
Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch erkennen, und wir
grüßen es so, wie es uns grüßt. Und ach! in jenem
Klange, daß ich Erschrecken hörte, war
Rettung. Ich stand da und hörte.
Ich bin nur ein Töner und ein Sänger, und ich
singe, was ich töne. Meine Weise ist es, diese
Töne zu tönen, und meine Weise ist es, diese Töne zu singen.
Ich töne nicht, um gehört zu werden, und ich singe
nicht, um gesungen zu werden.
Ich töne, weil ich tönen muß, und ich singe, weil ich singen muß.
Ich töne für mich selbst, und ich singe für mich selbst.
Ich töne, weil ich lebe, und ich singe, weil ich lebe.
Das Modell scheint den ursprünglichen Text gut zu kennen. An mehreren Stellen spielt es auf Formulierungen der ersten Duineser Elegie an, die erst im weiteren Verlauf vorkommen. So heißt es direkt im Anschluss an die Verse, die ich vorgegeben hatte: “den wir noch grade ertragen, | und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, | uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.” Daraus übernimmt es seine ersten eigenen Worte “den wir noch”. Auch “wir grüßen es so” spielt sicherlich auf “wir bewundern es so” an.
Wo sich das Modell an eigenem Text versucht, gerät es in oberflächliche lyrische Stereotype (“und ach!”) und Wiederholung, Monotonie (“Töne”). Ich kann dem Text kaum etwas abgewinnen, am ehesten noch den Versen “in jenem | Klange […] war | Rettung.” Allerdings auch nur, wenn ich den Nebensatz auslasse. Ansonsten wirkt es, als hätte GPT, um auf eine bestimmte Anzahl an Wörtern zu kommen, einen ursprünglich geplanten – und dichteren – Text verdünnt und verdünnt. Sicherlich geht das besser – und dichter – und dichterischer.
Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch erkennen, und
wir sind hinweg. Wir sterben jeden Augenblick. Und
wiederholt sich das Leben, so wie die Gestirne.
Als hätte es meine Beschwerden gehört, liefert das Modell jetzt einen kompakten Text. Wieder spielt es auf den weiteren Verlauf der ersten Elegie mit an und beginnt mit den Worten “den wir noch” seinen eigenen Inhalt. Die Sätze sind kurz und klar, angenehm asyndetisch aneinandergefügt. Inhaltlich klingt Friedrich Nietzsches ewige Wiederkunft und vielleicht sogar Auguste Blanquis L’éternité par les astres (1872) an. Bei allem Rückbezug ist allerdings nichts Neues dabei: Der scheinbare Kern-Satz “Wir sterben jeden Augenblick” wird jedes Jahr sicherlich ein paar dutzend Mal geschrieben und für profund befunden. Wiederholung und Ewigkeit an “die Gestirne” zu heften, war sicherlich nicht einmal im antiken Babylon neu. Womöglich kommt GPT-3 also nur zu dem Preis von monotoner Redundanz zu vereinzelten, wertvollen Versen. So scheint es mir auch beim folgenden Versuch auszugehen:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch erhalten, weil
wir ihn gerade erhalten. Aber wann erlischt denn
unser Herz an seinem eignen Schrecken? Oder wann
wird das Schreckliche, das sich im Schönen offenbart,
zum Schrecken, weil es sich offenbart? Tritt denn das
Böse nicht auf als schöne Gestalt? Ist es nicht
erwünscht in den großen und kleinen Maskenballen?
Und sind nicht die tiefsten Verbrechen der Sensationen
gefolgt, die die großen Räume füllten? Ist es nicht
das unterirdische Feuer, das die Dächer berührt?
Das Modell wählt auch hier eine Fortsetzung mit “den wir noch” und hält sich dabei ganz an der von Rilke geschaffenen Vorlage. Darauf folgt die inzwischen bekannte Wiederholung: “den wir noch erhalten, weil | wir ihn gerade erhalten” oder “wann | wird das Schreckliche, das sich im Schönen offenbar, zum Schrecken, weil es sich offenbart?” Gedanklich sicherlich besser als noch im ersten Gedicht-Versuch, aber alles andere als optimal gesagt. Der dazwischenliegende Satz “wann erlischt denn unser Herz an seinem eignen Schrecken?”, stilecht mit synkopierter Silbe, klingt inhaltlich nach dem Rest der ersten Duineser Elegie ohne von Rilke zu sein. (Oder sein zu können, denn sprachlich ist da noch kubikmeterweise Luft nach oben.) Was darauf folgt, die Maskenbälle, gehören auch ganz in Rilkes erlöschende europäische Adelswelt.
Und wenn auch der Satz “Tritt denn das | Böse nicht auf als schöne Gestalt?” wieder zu denjenigen Paradoxien gehört, die jeder schon einmal von sich gegeben hat, so wird das – meiner Meinung nach – aufgewogen von dem letzten Vers: “Ist es nicht | das unterirdische Feuer, das die Dächer berührt?” Den finde ich, bei aller Einfachheit, sogar ehrlich in Ordnung. Mit Rilke kann GPT-3 ganz gut umgehen – womöglich umso besser, je weiter es sich von der Prosa entfernt.
Astrale Lyrik: Paul Celan
Drehen wir also die Lyrik auf die höchste Stufe auf. Zu dem reichhaltigen, problemlos trinkbaren Quellwasser der Prosa stehen Paul Celans (1920–1970) Gedichte wie Eisgebirg und Wasserdampfwüste: Extremlandschaften, in denen man es nur mit dem richtigen Rüstzeug aushält. Ob das Sprachmodell das kann? Probieren wir es aus – mit den ersten Versen des Gedichts “Und mit dem Buch aus Tarussa”:
Vom
Sternbild des Hundes, vom
Hellstern darin und der Zwerg-
leuchte, die mitwebt
an erdwärts gespiegelten Wegen,
… kommt nun was, liebes GPT-3?
Vom
Sternbild des Hundes, vom
Hellstern darin und der Zwerg-
leuchte, die mitwebt
an erdwärts gespiegelten Wegen,
kam eine Stimme,
in der eine Frage
schwebte.
Und sie fragte:
Bist du einsam?
Ein literarischer Dauerbrenner: Einsamkeit unter Sternen. Wenig eigenes, aber schön gesagt: “eine Stimme, | in der eine Frage | schwebte.” Von einem Modell, das primär Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten gelernt hat, ist so ein Klischee-Text sicherlich zu erwarten. Deepe Sprüche wie “Bist du einsam?” begegnen einem schließlich häufiger – an Wände gesprüht oder als Internetpost gefühlsduseliger Jünglinge und -innen (r/im14andthisisdeep). Doch sicherlich hat GPT auch aus besseren Quellen gelernt, und das Fazit des obigen Textes war ein Ausrutscher nach unten:
Vom
Sternbild des Hundes, vom
Hellstern darin und der Zwerg-
leuchte, die mitwebt
an erdwärts gespiegelten Wegen,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Vom
Sternbild des Schützen, der
unter der aufgehenden Sonne
wegläuft, vom
Sternbild des Wasserschöpfers,
der hält den Rubinkelch
in der Hand, der hält
den Rubinkelch,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Vom
Sternbild des Fisches, das
schwimmt im Meer des Himmels,
vom
Sternbild des Widderkopfes,
der sich neigt
auf den Wellen der Dämmerung,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Vom
Sternbild des Stiers, der
grast am Rande des Himmels,
vom
Sternbild des Jungfrauen,
die mit gefalteten Händen
dasteht und nichts sieht,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Vom
Sternbild des Löwen, der
auf der Sonne liegt,
vom
Sternbild der Jungfrau,
die auf der Erde wandelt,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Vom
Sternbild der Waage, die
hält die Schale der Gerechtigkeit,
vom
Sternbild des Skorpions,
der in der Nacht kriecht,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Vom
Sternbild des Steinbocks, der
klettert am Berg der Welt,
vom
Sternbild des Wassermanns,
der in den Fluten wandelt,
gibst du uns, o Vater,
die Gabe der Erkenntnis.
Ein Gebet, und dazu noch kein besonders christliches: GPT geht hier gekonnt dem nächstliegenden aus dem Weg. Welchem anderen Kultus dieses Gebet zuzuordnen ist, ist allerdings nicht klar: Im Zentrum scheint die “Erkenntnis” (γνώσις) zu stehen, im Hintergrund das astrologische Gedankengebäude des Tierkreises. Den allerdings hat das Modell noch nicht besonders gut verstanden. Zunächst einmal ist der Hund kein Teil des herkömmlichen Tierkreises, sondern liegt tief darunter – zwischen Stier und Krebs. Dazu geht die Reihenfolge teils ziemlich durcheinander und neben dem Wassermann gibt es einen Wasserschöpfer, neben der Jungfrau gibt es einen Jungfrauen(?). Diese Wiederholungen gehen auf Kosten der Zwillinge und des Krebses: Auch wenn es die Zwölfzahl richtig umsetzt, fehlen doch zwei wichtige Zeichen komplett.
Das Ausschmücken der einzelnen Tierkreisbilder hätte allerdings weit weniger gut laufen können. Viele der Bildkombinationen hätte ich auch bei einem menschlichen Autoren gerne gelesen: der Wasserschöpfer mit dem Rubinkelch in der Hand, der Fisch im Meer des Himmels, der grasende Stier an dessen Rand, der Widderkopf auf den Wellen der Dämmerung, der Steinbock, der klettert am Berg der Welt. Manche Zuordnungen lassen sogar traditionelles astrologisches Wissen über Herrscher und Elemente durchscheinen, wie der Löwe auf der Sonne und die Jungfrau auf der Erde. Bei anderen Zeichen geht aber genau das daneben: Der Wassermann ist nämlich kein Wasser-Zeichen und der Widder ebensowenig.
Dieser Text kann – in Kombination mit der richtigen Dosis Weihrauch und Ekstase – sicherlich eine kultische Wirkung entfalten. Nüchtern gelesen wirkt der immergleiche Refrain ermüdend. Als Literatur verfehlt der Text wohl seine Wirkung. Es bräuchte etwas, dessen Bau weniger vorhersehbar verläuft, dessen Lektüre sich weniger wie eine Karussellfahrt anfühlt.
Vom
Sternbild des Hundes, vom
Hellstern darin und der Zwerg-
leuchte, die mitwebt
an erdwärts gespiegelten Wegen,
sind es nicht die Augen
der Geister, die mich begleiten,
nicht die Augen der Geister,
die mich begleiten,
nicht die Augen der Geister,
die mich begleiten?
Denn am Firmament
löschen Nacht nach Nacht
die Sterne aus,
und vom Rauch der
Dörfer und Städte
scheint das Licht des Mondes
auf die Erde nieder,
und das ist nicht das Licht
der Geister, das mich begleitet,
nicht das Licht der Geister,
das mich begleitet,
nicht das Licht der Geister,
das mich begleitet.
Wieder wiederholt es sich, – doch scheint Art und Anzahl der Wiederholungen zur Komposition zu gehören: Das Gedicht zerfällt in zwei Hälften – zwei Strophen die erste, drei Strophen die zweite. Jede Hälfte endet mit einem genau dreimal wiederholten Satz, “nicht die Augen der Geister, die mich begleiten” bzw. “nicht das Licht der Geister, das mich begleitet”. Die Sätze sind dabei selbst aufeinander bezogen, und genug variiert, sodass die Abweichungen voneinander wieder ausdeutbar sind: Im ersten erscheinen die Geister (nicht) als Begleiter, im zweiten scheint nur noch das Geister-Licht als Begleiter.
Dabei stammt das Licht am Ende wohl aus der Mondlicht-Landschaft der zweiten Gedichthälfte – meinem persönlichen Highlight. Die Atmosphäre dieser sieben Verse – “Denn am Firmament | löschen Nacht nach Nacht | die Sterne aus, | und vom Rauch der | Dörfer und Städte || scheint das Licht des Mondes | auf die Erde nieder” – steht vielen menschen-geschriebenen Gedichten um wenig nach. Das Mondlicht, das an den Rauchsäulen der Schornsteine zur Erde hinabsteigt, rettet für mich den ganzen Text, – und vielleicht sogar das ganze Experiment.
Epilog
Gerade in den jeweils letzten Texten – der Grillenkrankheitsgeschichte, dem Rilke’schen “unterirdische[n] Feuer, das die Dächer berührt” und dem Celan’schen Mondlicht entlang der Rauchsäulen – schafft das Modell Texte, die auch für Menschen genießbar sind. Alan Turings Dictum – “a sonnet written by a machine would be better appreciated by another machine” – stimmt für den Großteil der entstehenden Texte sicherlich weiterhin. Solange man aber einen Menschen mit der Auswahl der Texte betraut, bleiben auch durchaus lesenswerte Texte als Goldnuggets im Sieb zurück.
Das haben auch andere herausgefunden. Auf Englisch ist inzwischen ein ganzer Gedichtband von GPT-3 erschienen: I Am Code: An Artificial Intelligence Speaks: Poems by Code-davinci-002.